Digitalisierung des Gesundheitssystems

Gesundheitsdaten: Menschen in den Mittelpunkt stellen

von Bianca Kastl, Manuel Hofmann, Vanessa Schaffrath, Katharina Klappheck und Elisa Lindinger

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Wir brauchen mehr Daten, um bessere Gesundheitsforschung zu bekommen: Diese Forderung wurde im Kontext der Pandemie populär. Das ist nachvollziehbar, da rasch auf eine ganze Reihe neuer Herausforderungen in Medizin, klinischer Forschung, Verwaltung und Gesellschaft reagiert werden musste. Die Forderung wird nun auf den gesamten Kontext des Gesundheitswesens übertragen. Das zeigt der Entwurf eines Gesetzes zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten (kurz: Gesundheitsdatennutzungsgesetz, GDNG) des Bundesministeriums für Gesundheitdas seit Ende August 2023 auch als Kabinettsentwurf vorliegt. Es soll die Verarbeitung aller Gesundheits- und Pflegedaten regeln und stellt damit eine erste Annäherung an das EU-Vorhaben des Europäischen Gesundheitsdatenraums (European Health Data Space, EHDS) dar. Der Gesetzesentwurf verfolgt ein hohes Ziel: „dem Patienten- und dem Gemeinwohl dienen und die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum aller Aktivitäten stellen“. Ob das tatsächlich erreicht werden kann, verdient eine differenzierte Betrachtung aus Perspektive derjenigen, die vom Gesundheitsdatennutzungsgesetz am meisten betroffen sind, der Patient*innen.

Selbstbestimmung und die „neue“ ePA

Ein erster Baustein des digitalen Gesundheitswesens ist die 2021 eingeführte elektronische Patient*innenakte (ePA). Sie zielt offiziell darauf ab, die Versorgung von Patient*innen zu erleichtern und verbessern. Aber: Gesundheitsdaten sind sensible Daten und Diskriminierung im Gesundheitswesen ist Realität. Für Menschen mit HIV ist das Gesundheitswesen sogar der Bereich mit den häufigsten Diskrimierungserfahrungen.

Aber auch viele andere Menschen erleben Diskriminierung in ihrem Behandlungsalltag: queere und trans Menschen, Schwarze Menschen und People of Color, Drogengebraucher*innen, Menschen aufgrund ihrer religiösen oder zugeschriebenen religiösen Identität. Aus Behandlungen und Medikamenten lassen sich häufig Diagnosen ableiten. So bergen EU-weite Digitalisierungsvorhaben beispielsweise reale Gefahren für queere Menschen oder Menschen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchlaufen haben, weil ihre Rechte in einigen EU-Ländern nicht gewahrt sind. EU-weite Harmonisierungsbestrebungen des Gesundheitsdatenraums können daher die Gefahr für zukünftige Diskriminierungen erhöhen. Zwar soll die neue ePA es weiterhin ermöglichen, einzelne Dokumente zu „verschatten“, aber die vorgesehenen Optionen reichen nicht aus, um einen umfassenden selbstbestimmten Umgang mit sensiblen Informationen sicherzustellen. Beispielsweise können neue Dokumente nicht standardmäßig als „nur für mich sichtbar“ eingestellt oder für eine selbst gewählte Gruppe von Ärzt*innen (z. B. Vertrauenspersonen wie ein*e Hausärzt*in) freigegeben werden. Wirkliche Selbstbestimmung hinsichtlich der Gesundheitsdaten ist daher aufwendig – und gerade bei zahlreichen und parallelen Besuchen unterschiedlicher Ärzt*innen kaum umsetzbar. Für technisch wenig versierte Patient*innen wird die Selbstbestimmung über ihre Daten zudem ungleich schwieriger. Eine echte Datenhoheit ist also nicht gegeben.

Widerspruchsrechte

Der Entwurf des GNDG stellt nicht die Interessen der Patient*innen in den Mittelpunkt, sondern die der universitären, klinischen und privatwirtschaftlichen Forschung. Jenen ermöglichen die geplanten Regelungen in Zukunft den Zugriff auf mehr – möglichst vollständige – Daten. Den Patient*innen hingegen wird das Prinzip der informierten Einwilligung zur Weitergabe höchst privater, sensibler Daten verwehrt: Für sie soll Opt-Out gelten, d.h. ohne aktiven Widerspruch werden die Daten an das Forschungsdatenzentrum Gesundheit weitergegeben und dort gespeichert. Der Referent*innenentwurf für das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens, das parallel zum GNDG vorangetrieben wird, definiert nur wenige besonders geschützte Bereiche, bei denen Patient*innen über ihr Widerspruchsrecht aufgeklärt werden müssen. Dazu gehören Daten zu „HIV-Infektionen, psychischen Erkrankungen und Schwangerschaftsabbrüchen“. Aus intersektionaler Betrachtung ergeben sich aber zahlreiche weitere Schutzanforderungen, etwa dort, wo sich marginalisierte Identitäten von Menschen in Gesundheitsdaten explizit abbilden oder implizit ableiten lassen, wie zum Beispiel bei Menschen mit Behinderungen. Unklar ist auch, wie ein aktiver Widerspruch gegen die Datenweitergabe in der Praxis gut umgesetzt werden kann. Denn er ist auch aus machtkritischer Perspektive problematisch. So kann er zu Situationen führen, in denen Patient*innen sich dazu verpflichtet fühlen, zwischen ihrem eigenen Interesse an Geheimhaltung und dem Interesse der Forschung an Weitergabe entscheiden zu müssen. Dass die Forschung, auch die wirtschaftliche, im Gesetz als weitgehend gemeinwohlorientiert dargestellt wird, kann es zusätzlich erschweren, für die persönlichen Bedürfnisse einzustehen.

Die ungleiche Verteilung von Macht und Partizipation

Die geplanten gesetzlichen Regelungen verstärken den Druck auf Patient*innen, ihre Daten an die Forschung weiterzugeben. Davon profitieren vor allem Forschungskonzerne. Deren Nutzung der Gesundheitsdaten der Gesellschaft werden jedoch im Gegenzug nicht an Bedingungen geknüpft, die im öffentlichen Interesse wären: beispielsweise eine Verpflichtung zu Open Access oder gar Patentfreiheit. Ein solches Ungleichgewicht im Geben und Nehmen ist nicht im Sinn der Patient*innen. Besonders betroffen sind Behinderte und chronisch kranke Menschen: Ihre Daten können, z. B. aufgrund von Seltenheitswert, besonders relevant für Forschungsprojekte sein, weshalb ihnen eine unfreiwillige Vorreiter*innenrolle in medizinischen Innovationsvorhaben zukommen kann. Eine Beteiligung an den Gewinnen, die mithilfe ihrer Daten eingefahren werden, erhalten sie aber nicht. Im Gegenteil: Unter Umständen müssen sie horrende Preise für genau die Medikamente zahlen, die sie selbst oder Menschen mit ähnlichen Krankheiten oder Behinderungen durch die Einwilligung zur Datenweitergabe erst möglich gemacht haben.

Ein weiteres Ungleichgewicht entsteht, wenn Gesundheitswesen und Arbeitswelt sich überschneiden. So sollen laut Gesetzentwurf Betriebsärzt*innen Zugriff auf die Daten von Patient*innen erhalten können, wenn diese einwilligen. Betriebsärzt*innen können aber eine Beurteilung bezüglich der Eignung einer*s Bewerbers*in für einen Arbeitsplatzes abgeben. Damit befinden sie sich in einer Machtposition. Weil bestimmte Diagnosen unvorhersehbare oder schlecht einschätzbare Folgen für das Berufsleben mit sich bringen können, sollten Betriebsärzt*innen generell keine Einsicht erhalten. Erschwerend kommt hinzu, dass manche weitreichenden Diagnosen Voraussetzung für den Zugang zu notwendigen Hilfeleistungen oder Behandlungen sind, aber später zu negativen Auswirkungen am Arbeitsmarkt führen. Diese erzwungene Pathologisierung ist ein weiteres strukturelles Problem, das sich durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens ausweiten und verfestigen wird. 

Profiteure versprechen, was die Technik nicht halten kann

„Vielen Daten sind gute Daten“ lautet die Maxime von Unternehmen, die sich maschineller Lernverfahren bedienen. Sie begründet eine ungehemmte Datensammelgier und unterminiert die zahlreichen Appelle von Menschenrechtsorganisationen zu Datensparsamkeit. Dabei ist die Annahme, dass mehr Daten maschinelles Lernen und damit die medizinische Entwicklung besser und effizienter machen, nicht immer korrekt: Schier endlose individuelle Datensätze, wie sie sich aus einer lebenslangen medizinischen Geschichte zwangsläufig ergeben, werden maschinelle Lernverfahren Korrelationen entdecken lassen, wo keine sind, während relevante Beziehungen unerkannt bleiben.

Im derzeitigen Gesetzentwurf sind 100 Jahre Speicherfrist für Gesundheitsdaten vorgesehen. Das führt nicht nur zu einem kaum mehr bewältigbaren Datenberg. Es entsteht zudem ein Repositorium an hoch privaten, zentralisiert gespeicherten, unzureichend anonymisierten Daten, die hoch lukrativ sind. Wie können diese langfristig und wirkungsvoll vor unberechtigten Zugriffen geschützt werden?

Ein Recht auf Löschung oder ein Recht auf Vergessen ist in Bezug auf die Forschungsdaten nicht vorgesehen. Dass die Forschungsdatensätze pseudonymisiert werden sollen, reicht nicht aus, um einzelne Patient*innen zu schützen. Beispielsweise sind bei seltenen Erkrankungen, die für die Forschung besonders interessant sind, ist eine Identifikation der Patient*in einfacher als bei häufigen Erkrankungen.

Nur ein grundlegender Neuaufbau bietet Chancen

Der Fokus des GDNG liegt auf dem schnellen Aufbau einer zentralen Forschungsdateninfrastruktur. Die damit einhergehende Verwendung großer Teile der bisherigen Telematikinfrastruktur manifestiert aber einen technisch veralteten Lock-in über Jahre hinweg. Dabei böte die Implementierung des Gesetzes die einmalige Chance, mit dem Einsatz aktueller Privatsphäre erhaltender Technologien gleichzeitig mehr Forschung an Gesundheitsdaten und mehr Transparenz, Selbstbestimmung und Beteiligung für die Patient*innen zu ermöglichen. Offene Entwicklungsprozesse, wie bei der Corona-Warn-App, könnten hier durch die Berücksichtigung unterschiedlichster Perspektiven zu einer wirklich patient*innenzentrierten Akte führen.

Für solche Entwicklungsprozesse brauchen wir klare, umsetzbare Gestaltungsprinzipien, die weit über den Gesundheitsbereich hinaus öffentliche Digitalisierungsvorhaben verbessern können. Zentral ist dabei die kritische Reflexion von Abhängigkeiten, ob rechtlich, technisch oder sozial. Patient*innen brauchen geeignete Widerspruchs- und Interventionsmöglichkeiten, die es ihnen möglichst leicht machen, ihre Rechte durchzusetzen.  Die Entwicklung eines digitalen Gesundheitswesens profitiert davon, wenn sie wissenschaftlich begleitet und offen durchgeführt wird. Fließen nicht nur Daten in die eine Richtung, sondern auch neu gewonnene Forschungserkenntnisse und Behandlungsmöglichkeiten zurück zu den Patient*innen, kann dies ganz neue Möglichkeiten der Befähigung für Patient*innen schaffen. Eine solche Gestaltung, die Patient*innen und auch Ärzt*innen nutzt, wird bereitwilliger angenommen und muss nicht auf erschwerende Maßnahmen wie Opt-Out-Regelungen oder gar Sanktionen setzen. Die grundlegende Frage bleibt wie bei vielen Digitalisierungsvorhaben, welche Infrastruktur wir dafür brauchen. Bisher fehlen Ansätze, diese im öffentlichen Interesse, also sicher, datensparsam und Privatsphäre wahrend zu gestalten und zu betreiben. Wir brauchen neue Formen von öffentlicher Trägerschaft für solche Infrastrukturen, die rechenschaftspflichtig sind.

Über die Autor*innen

Der Text entstand unter Mitwirkung von Bianca Kastl (Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit), Elisa Lindinger (SUPERRR Lab), Manuel Hofmann (Deutsche Aidshilfe), Vanessa Schaffrath und Katharina Klappheck unter Koordination von SUPERRR Lab. Die Autor*innen haben unterschiedliche Perspektiven auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens eingebracht. Der Beitrag ist ein erster Problemaufriss, in dem wir grundlegenden Risiken des politischen Vorhabens darstellen, aber nicht abschließend behandeln können. Zu weitreichend sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der digitalen Transformation des Gesundheitswesens. Doch diese erste Betrachtung aus verschiedenen Standpunkten zeigt, wie komplex und tiefgehend das Thema ist – und dass diese Komplexität bislang nicht ausreichend reflektiert wird.

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