Gesundheitsdaten
Was Menschen vom digitalen Gesundheitssystem erwarten
von Bianca Kastl, Manuel Hofmann, Vanessa Schaffrath und Elisa Lindinger
Zusammenfassung:
Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GNDG) und das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz – DigiG) sollen die Digitalisierung des Gesundheitswesens vorantreiben. Mögliche gesellschaftliche Auswirkungen lassen sich nur absehen, wenn alle Vorhaben gemeinsam betrachtet werden und die berechtigten, sehr diversen Schutzbedürfnisse von Patient*innen im Zentrum der Ausgestaltung stehen. Dieser Text ist eine Entwurfsfassung.
Empfehlungen:
- Menschenzentriertheit: Die Digitalisierung des Gesundheitssystems kann nur menschenzentriert gelingen. Dafür müssen die Patient*innengruppen in den rechtlichen und technischen Ausgestaltungsprozess kontinuierlich einbezogen werden.
- State-of-the-Art der Technik: Statt auf bestehende veraltete Infrastrukturen zu setzen, muss die Chance für einen technischen Neustart genutzt werden, der auf aktuelle privatsphäre-erhaltende Technologien setzt.
- Offener Forschungsprozess: Ein digitales Gesundheitswesen muss transparent sein und Patient*innen über Forschungsergebnisse und neue Behandlungsmöglichkeiten informieren, wenn sie das wünschen.
- Gemeinwohl: Werden die Gesundheitsdaten einer ganzen Gesellschaft von der Forschung genutzt, müssen die Ergebnisse auch der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Dafür müssen rechtliche Vorgaben geschaffen werden.
Wir brauchen mehr Daten, um bessere Gesundheitsforschung zu bekommen: Diese Forderung wurde im Kontext der Pandemie populär. Das ist nachvollziehbar, da rasch auf eine ganze Reihe neuer Herausforderungen in Medizin, klinischer Forschung, Verwaltung und Gesellschaft reagiert werden musste. Die Forderung wird nun auf den gesamten Kontext des Gesundheitswesens übertragen, was sich beispielsweise im Entwurf eines Gesetzes zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten (kurz: Gesundheitsdatennutzungsgesetz, GDNG) zeigt. Dieses liegt nach einem Entwurf des Bundesministeriums für Gesundheit seit Ende August 2023 auch als Kabinettsentwurf vor und sieht die Verarbeitung aller Gesundheits- und Pflegedaten vor. Es stellt eine erste Annäherung an das EU-Vorhaben des Europäischen Gesundheitsdatenraums (European Health Data Space, EHDS) dar. Der tiefgreifende Gesetzesentwurf verfolgt ein hohes Ziel: „dem Patienten- und dem Gemeinwohl dienen und die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum aller Aktivitäten stellen“. Ob diese Ziele in den derzeitigen politischen Vorhaben auch tatsächlich erreicht werden, verdient einer differenzierten Betrachtung aus Sicht derer, die vom Gesundheitsdatennutzungsgesetz am meisten betroffen sind: den Patient*innen.
Selbstbestimmung im Umgang mit Gesundheitsdaten in der „neuen“ ePA
Ein erster Baustein des digitalen Gesundheitswesens ist die 2021 eingeführte elektronische Patient*innenakte (ePA). Während die ePA offiziell darauf abzielt, die Versorgung von Patient*innen zu erleichtern und verbessern, berücksichtigt sie die Perspektiven vieler Patient*innen nicht genug. Denn: Gesundheitsdaten sind sensible Daten, und Diskriminierung im Gesundheitswesen ist Realität. Für Menschen mit HIV ist das Gesundheitswesen sogar der Ort mit den häufigsten Diskrimierungserfahrungen. Aber auch viele andere Menschen erleben solche Diskriminierung in ihrem Behandlungsalltag: queere und trans Menschen, Schwarze Menschen und People of Color, Drogengebraucher*innen, Menschen aufgrund ihrer religiösen oder zugeschrieben religiösen Identität. Aus Behandlungen und Medikamentengaben lassen sich häufig sensible Diagnosen oder Merkmale ableiten. EU-weite Digitalisierungsvorhaben bergen reale Gefahren für queere Menschen oder Menschen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchlaufen haben, weil ihre Grundrechte in einigen EU-Ländern nicht gewahrt sind. EU-weite Harmonisierungsbestrebungen des Gesundheitsdatenraums können die Gefahr für Diskriminierung in Zukunft erhöhen.
Die neue ePA soll weiterhin die Möglichkeit geben, einzelne Dokumente zu „verschatten“, allerdings sind die vorgesehenen Optionen nicht ausreichend, um über die einzelnen Bestandteile der ePA hinweg einen wirklich selbstbestimmten Umgang mit sensiblen Informationen sicherzustellen. So ist es beispielsweise nicht möglich, dass neue Dokumente standardmäßig als „nur für mich sichtbar“ eingestellt werden oder diese nur für eine selbst gewählte Gruppe von Ärzt*innen freigegeben sind (z. B. Vertrauenspersonen wie ein*e Hausärzt*in). Wirkliche Selbstbestimmung mit Gesundheitsdaten geht so mit einem hohen Aufwand einher und ist – gerade bei zahlreichen und parallelen Besuchen bei unterschiedlichen Ärzt*innen – kaum umsetzbar. Selbst wenn die Verschattung nicht nur von Dokumenten, sondern auch von sensiblen Datenpunkten möglich ist, ist sie realistisch gesehen für Patient*innen aufgrund ökonomischer Zwänge oder mangelnden Wissens nicht konsequent selbst umsetzbar. Eine echte Datenhoheit ist deshalb nicht gegeben.
Die Gestaltungsrichtung zeigt, was wirklich im Zentrum steht
Die im Entwurf des GNDG beschriebene Gestaltung macht deutlich, dass vor der Menschenzentriertheit die Forschungsorientiertheit kommt: die Stellschrauben der Datenvereinbarung sind so eingestellt, dass sie vor allem die Forschung befähigen, in Zukunft auf mehr – möglichst vollständige – Daten zurückgreifen zu können. Damit sind ausdrücklich die universitäre, klinische und privatwirtschaftliche Forschung gemeint. Den Patient*innen verwehrt der Entwurf das Prinzip der informierten Einwilligung zur Weitergabe höchst privater, sensibler Daten: Für sie soll grundsätzlich eine Opt-Out-Regelung gelten, ohne aktiven Widerspruch werden die Daten an das Forschungsdatenzentrum Gesundheit weitergegeben und dort gespeichert.
Der Referent*innenentwurf für das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens, das parallel zum GNDG vorangetrieben wird, definiert wenige besonders geschützte Bereiche, bei denen Patient*innen über ihr Widerspruchsrecht vor der eigentlichen Datenweitergabe aufklären müssen. Das betrifft Daten zu „HIV-Infektionen, psychischen Erkrankungen und Schwangerschaftsabbrüchen“. Wie so ein Widerspruch in der Praxis gut umgesetzt werden soll, ist jedoch unklar. Aus intersektionaler Betrachtung ergeben sich außerdem zahlreiche weitere, nicht abschließend aufzählbare notwendige Schutzanforderungen, etwa dort, wo sich marginalisierte Identitäten von Menschen in Gesundheitsdaten explizit abbilden oder implizit ableiten lassen. Eine Pseudonymisierung von Datensätzen, wie sie derzeit vorgesehen ist, reicht dafür nicht aus. Diskriminierung bei Proxy ist dennoch möglich. Eine verantwortungsvolle Gesundheitsdatennutzung kann nur dann erfolgen, wenn sie die Sicherheit, das Wohlergehen und die Unterschiedlichkeit aller Patient*innen im Blick hat. Diese Voraussetzung erfüllt der Gesetzentwurf nicht.
Ein Gesundheitssystem, in dem Macht ungleich verteilt ist
Ein aktiver Widerspruch gegen die Datenweitergabe ist auch aus machtkritischer Perspektive problematisch. Er kann zu Situationen führen, in denen Patient*innen vermeintlich zwischen ihren eigenen Bedürfnissen der Geheimhaltung und dem Interesse der Forschung abwägen müssen – zu einer Zeit von körperlicher und/oder psychischer Belastung, und mit einer Reichweite, die sie selbst kaum absehen können. Dass die Forschung, auch die wirtschaftliche, im Gesetz als weitgehend gemeinwohlorientiert dargestellt wird, erschwert es ihnen, für ihre eigene Belange einzustehen. Vom Anspruch an Patient*innen, ihre Daten an die Forschung weiterzugeben, profitieren vor allem Forschungskonzerne. Ihre Nutzung der Gesundheitsdaten der Gesellschaft werden nicht an Bedingungen geknüpft, die im öffentlichen Interesse wären: beispielsweise eine Verpflichtung zu Open Access oder gar Patentfreiheit. Ein solches Ungleichgewicht im Geben und Nehmen kann nicht im Sinn der Patient*innen sein. Besonders betroffen sind Behinderte und chronisch kranke Menschen: Ihre Daten können, z. B. aufgrund von Seltenheitswert, besonders relevant für Forschungsprojekte sein, weshalb ihnen eine unfreiwillige Vorreiter*innenrolle in medizinischen Innovationsvorhaben zukommen kann. Sie erhalten jedoch keine Beteiligung an den Gewinnen, die mithilfe ihrer Daten eingefahren werden – und müssen gegebenenfalls horrende Preise für genau die Medikamente zahlen, die sie selbst oder Menschen mit ähnlichen Krankheiten oder Behinderungen durch Datenteilung möglich gemacht haben.
Ein weiteres Ungleichgewicht entsteht, wenn Gesundheitswesen und Arbeitsumfeld sich überschneiden. Derzeit sollen Betriebsärzt*innen Zugriff auf die Daten von Patient*innen erhalten können, wenn diese einwilligen. Betriebsärzt*innen entscheiden aber über Einstellung oder Ablehnung und befinden sich damit gegenüber den Bewerber*innen in einer Machtposition. Betriebsärzt*innen sollten deshalb generell keine Einsichtsmöglichkeit erhalten. Dies ist gerade vor dem Hintergrund von Bedeutung, dass Ärzt*innen Diagnosen ohne Einverständnis der Patient*innen vergeben dürfen, die unter anderem im Berufsleben unabsehbare Folgen mit sich bringen können. In anderen Fällen sind solche weitreichenden Diagnosen Voraussetzung für den Zugang zu notwendigen Hilfeleistungen oder Behandlungen, führen später aber zu negativen Auswirkungen am Arbeitsmarkt. Diese erzwungene Pathologisierung ist ein weiteres strukturelles Problem, das sich durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens ausweiten und verfestigen wird.
Wieder einmal wird mit Technik versprochen, was sie nicht halten kann
„Vielen Daten sind gute Daten“ ist die Maxime von Unternehmen, die sich maschineller Lernverfahren bedienen. Sie begründet eine ungehemmte Datensammelgier und unterminiert die zahlreichen wichtigen Appelle von Menschenrechtsorganisationen zu Datensparsamkeit. Obwohl sie dem Datendrang der großen Tech-Unternehmen kaum nachsteht, werden diese neuen Geschäftsmodelle vergleichsweise wenig kritisch betrachtet. Dabei ist die Annahme, dass mehr Daten die Ergebnisse des maschinellen Lernens und damit der medizinischen Entwicklung praktikabler und effizienter machen, nicht immer korrekt: In Datenbeständen mit schier endlosen individuellen Datensätzen, wie sie sich aus einer lebenslangen medizinischen Geschichte zwangsläufig ergeben, werden maschinelle Lernverfahren Korrelationen entdecken, wo keine sind, während relevante Beziehungen unerkannt bleiben.
Im derzeitigen Gesetzentwurf sind 100 Jahre Speicherfrist für Gesundheitsdaten vorgesehen. Das führt nicht nur zur zu einem Datenberg, der für maschinelle Lernverfahren kaum mehr verwendbar ist. Dadurch entsteht auch ein Repositorium an hoch privaten, zentralisiert gespeicherten, unzureichend anonymisierten Daten, die für menschliche Akteure hoch lukrativ sind. Eine solche Datenmenge, die viele böswillige Akteur*innen in ihren Besitz bringen möchten, technisch über eine Zeit von 100 Jahren abzusichern, ist schlicht unmöglich. Eine rein rechtliche Absicherung durch Unterstrafstellung widerrechtlicher Zugriffe ist fahrlässig und versetzt Patient*innen im Fall eines Datenverlusts in die Pflicht, entstandenen Schaden nachzuweisen, um entschädigt zu werden. Und nicht nur eine technische Absicherung über 100 Jahre ist unmöglich, auch rechtliche Vorgaben können sich unter geänderten politischen Verhältnissen rasch ändern.
Ein grundlegender Neuaufbau bietet Chancen
Der Fokus des GDNG liegt auf dem möglichst schnellen Aufbau einer zentralen Forschungsdateninfrastruktur und manifestiert durch die Verwendung großer Teile der bisherigen Telematikinfrastruktur einen technischen Lock-in in eine veraltete Infrastruktur über Jahre hinweg. Eine Umsetzung des GDNG bietet aber die einmalige Chance, mit einer Umsetzung in aktuellen privatsphäre-erhaltenden Technologien einerseits mehr Forschung an Gesundheitsdaten zu erlauben, auf der anderen Seite aber Patient*innen mehr Transparenz, Selbstbestimmung und Beteiligung an medizinischer Forschung zu ermöglichen. Offene Entwicklungsprozesse, wie sie in der Pandemie bei der Corona-Warn-App genutzt wurden, könnten hier durch die Berücksichtigung unterschiedlichster Perspektiven eine wirkliche patient*innen-zentrierte Patientenakte ermöglichen, die sich durch Privatsphäre und Transparenz weiteres Vertrauen in der Bevölkerung verdient.
Für solche Entwicklungsprozesse brauchen wir klare, umsetzbare Gestaltungsprinzipien, die weit über den Gesundheitsbereich hinaus öffentliche Digitalisierungsvorhaben verbessern können. Ein zentrales Gestaltungmerkmal muss beinhalten, Abhängigkeiten, ob rechtlich, technisch oder sozial, zu erkennen und zu adressieren. Patient*innen brauchen geeignete Widerspruchs- und Interventionsmöglichkeiten, die es ihnen möglichst einfach machen, ihre Rechte durchzusetzen. Die Entwicklung eines digitalen Gesundheitswesens profitiert davon, wenn sie wissenschaftlich begleitet und offen durchgeführt wird. Fließen nicht nur Daten in die eine Richtung, sondern auch neu gewonnene Forschungserkenntnisse und Behandlungsmöglichkeiten zurück zu den Patient*innen, kann dies ganz neue Möglichkeiten der Befähigung für Patient*innen schaffen. Dieser Ansatz wäre ein grundlegender Wandel in der Gestaltungsrichtung, weg von der Befähigung von Forschung, Wirtschaft und Krankenkassen hin zu den Menschen. Eine solche Gestaltung, die Patient*innen und auch Ärzt*innen nutzt, wird bereitwilliger angenommen und muss nicht auf erschwerende Maßnahmen wie Opt-Out-Regelungen oder gar Sanktionen setzen.
Die grundlegende Frage bleibt wie bei vielen Digitalisierungsvorhaben, welche Infrastruktur wir dafür brauchen. Bisher fehlen Ansätze, diese im öffentlichen Interesse, also sicher, datensparsam und privatsphärewahrend zu gestalten und zu betreiben, weil hier das Geschäftsmodell fehlt. Wir brauchen neue Formen von öffentlicher Trägerschaft für solche Infrastruktur, die rechenschaftspflichtig sind.
Über die Autor*innen
Der Text entstand unter Mitwirkung von Bianca Kastl (Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit), Elisa Lindinger (SUPERRR Lab), Manuel Hofmann (Deutsche Aidshilfe) und Vanessa Schaffrath unter Koordination von SUPERRR Lab. Die Autor*innen haben unterschiedliche Perspektiven auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens eingebracht. Dieser Text ist ein erster Grundkonsens, mit dem wir die grundlegenden Probleme des politischen Vorhabens darstellen, aber nicht abschließend behandeln können. Zu weitreichend sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der digitalen Transformation des Gesundheitswesens. Doch schon diese erste Betrachtung aus verschiedenen Standpunkten zeigt, wie komplex und tiefgehend das Thema ist – und dass diese Komplexität nicht ausreichend durchdrungen ist.
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