Eine verpasste Chance
Der Digital Services Act aus der Perspektive von Sexarbeiter*innen
von Yigit Aydin und Corinna Vetter
Der Digital Services Act (DSA), der 2022 von der Europäischen Union (EU) verabschiedet wurde, führte neue Regeln für sehr große Online-Plattformen (VLOPs) ein, um illegale Inhalte zu bekämpfen und die Nutzer*innen zu stärken, indem Online-Plattformen dazu gedrängt werden, Widerspruchsmechanismen gegen die Löschung von Inhalten und Konten zu entwickeln. Sexarbeiter*innen sind eine der vielen Gruppen, die von dieser Gesetzgebung betroffen sind und unter den unbeabsichtigten Folgen leiden können.
Wie Technologie die Sexarbeit verändert
Sexarbeit ist Gig-Arbeit, die auf einvernehmlichem Austausch sexueller oder erotischer Dienstleistungen zwischen Erwachsenen gegen Geld, Waren oder anderen Dienstleistungen basiert. Es ist sehr schwierig, die Zahl der Menschen, die in Europa in der Sexarbeit tätig sind, genau zu schätzen, da sie meist im Untergrund ausgeübt wird. Das passiert vor allem wegen Stigmatisierung und Kriminalisierung. Jüngste Schätzungen, wonach es in den 27 EU-Ländern “1 500 000 Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren” gibt, spiegeln die Gesamtzahl der in der Sexindustrie tätigen Personen nicht genau wider. In diesen Schätzungen sind Männer, transsexuelle und nicht-binäre Menschen, die Sex verkaufen, sowie Frauen im Alter von über 49 Jahren nicht berücksichtigt.
Im Einklang mit globalen Trends, verändert sich Sexarbeit in Europa rasant. Die digitale Sexarbeit hat während der COVID19-Pandemie eine besondere Beschleunigung erfahren, weil aufgrund der Schließung von Bordellen und anderen Orten Sexarbeiter*innen in vielen Ländern keinen Zugang zu analoger Arbeit hatten. Das Ergebnis war die Verschiebung hin zu digitaler und internetvermittelter Sexarbeit, die neue Möglichkeiten schuf, Einkommen aus verschiedenen Quellen zu generieren und gleichzeitig sicherer zu sein. Somit arbeitet ein bedeutender Teil der Sexarbeiter*innen ausschließlich digital, beispielsweise auf OnlyFans (und viele andere ähnliche Online-Plattformen), deren Nutzerbasis seit Beginn der COVID-19-Pandemie 2020 erheblich gewachsen ist.
Die Relevanz von Technologie in der Sexarbeit hat in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen. Tatsächlich zeigt die Forschung immer wieder, dass Zugang zum Internet und zu Plattformen für sexuelle Dienstleistungen die Sexarbeit nicht nur erleichtert und den Sexarbeitenden ermöglicht, Geld zu verdienen, sondern auch ein viel sichereres Arbeitsumfeld bietet. Durch internetvermittelte Sexarbeit können die Sexarbeitenden mehr Kontrolle über ihre Arbeitsbedingungen und -praktiken erlangen. Im Vergleich zu traditionelleren Arbeitsweisen, wie zum Beispiel der Arbeit im Bordell, die weniger Autonomie bietet, sind sie in der Lage, Grenzen zu setzen. Eine in Großbritannien durchgeführte Studie unter Online-Sexarbeiter*innen ergab, dass 78,3 % der Meinung waren, das Internet habe ihre Arbeitsbedingungen verbessert.
Deplatforming, Shadowbanning und mehr: Der anhaltende Kampf Sexarbeitender, online zu existieren
Trotz aller Vorteile von digitaler Sexarbeit, hat die Digitalisierung neue schwere Bedrohungen ins Leben der Sexarbeitenden gebracht. Da Sexarbeitende häufig aus öffentlichen Onlineräumen wie sozialen Medien ausgeschlossen werden, ist die Digitalisierung als zweischneidiges Schwert zu sehen. Instagram und andere Social-Media-Plattformen schränken die Kontensichtbarkeit häufig streng durch De-Platforming (Löschen von Konten) oder Shadowbanning (Einschränkung der Reichweite) ein.
Die großen Plattformen rechtfertigen ihre Handlungen mit dem Argument, dass besagte Konten gegen Gemeinschaftsstandards, also den eigenen Plattform-Regeln, verstoßen, indem sie illegale Aktivitäten fördern. Das passiert selbst in Fällen, in denen Sexarbeitende einfach über ihr Leben und ihre persönlichen Erfahrungen sprechen und keine Services anbieten. Deplatforming oder Shadowbanning zielen nicht nur auf die Konten von Sexarbeitenden ab, sondern betreffen auch Menschenrechtsorganisationen, die ihre Kanäle nutzen, um sich für Rechte und Schutz der Sexarbeitenden einzusetzen. Trotzdem kann die Verwendung des Wortes ,,Sexarbeit“ dazu führen, dass diese Inhalte im Rahmen der Inhaltsmoderation als illegal gekennzeichnet werden und gelöscht werden.
Ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie stark die Plattform-Selbstregulierung durch globale und regionale Gesetzgebung beeinflusst wird, ist FOSTA/SESTA in den USA. FOSTA/SESTA wurde als Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels verkauft, hat aber weltweit verheerende Auswirkungen auf Sexarbeitende. Seit ihrer Verabschiedung im Jahr 2018 werden Online-Dienste unter Druck gesetzt, Sexarbeiter*innen auszuschließen, um das Risiko rechtlicher Schritte zu vermeiden. Ironischerweise zeigt eine kürzlich durchgeführte Wirksamkeitsstudie von FOSTA/SESTA, dass die Bekämpfung des Menschenhandels letztlich gescheitert ist. Die EU-Politik hat einen alternativen Weg eingeschlagen: Das Fehlen effizienter Antidiskriminierungsgesetze sowie bestehende Gesetze, die Sexarbeit in einigen Mitgliedstaaten kriminalisieren, schaffen perfekte Bedingungen für Online-Dienste, um die Sexarbeitenden zu diskriminieren. Durch die Gestaltung von Gemeinschaftsstandards, die die Ungleichheiten in unseren Gesellschaften reproduzieren und verstärken, tragen diese Online-Dienste zur Marginalisierung Sexarbeitender bei.
Der DSA wird den Bedürfnissen von Sexarbeitenden nicht gerecht
Obwohl die EU-Gesetzgebung nicht speziell auf die Regulierung von Sexarbeit ausgerichtet ist, hat sie dennoch erhebliche Auswirkungen auf diesen Beruf. Die politischen Entscheidungsträger*innen der EU stehen derzeit vor der Herausforderung, mit den rasanten technologischen Entwicklungen und der Notwendigkeit der Regulierung von Technologieunternehmen Schritt zu halten. Ein Beispiel für eine solche Bemühung ist der DSA, der darauf abzielt, illegale Inhalte zu bekämpfen und die Nutzer*innen zu stärken, indem Online-Plattformen dazu gedrängt werden, Widerspruchsmechanismen gegen die Löschung von Inhalten und Konten zu entwickeln und Algorithmus-Audits einzuhalten.
Während die neuen Anforderungen, die der DSA durchsetzt, auf den ersten Blick positiv für die Sexarbeitenden zu sein scheinen, hat die Wirksamkeit des DSA in Wirklichkeit Grenzen. Angesichts des Mangels an zielgruppengerechter Einbindung von marginalisierten Communities in den Politikprozess verwundert es nicht, dass der DSA im derzeitigen Zustand es nicht schafft, die Rechte derer, die am anfälligsten für Rechtsverletzungen und Online-Schäden sind, zu schützen. Der DSA als Ganzes versäumt es, einen mehrschichtigen Ansatz zu verfolgen, um die auffallend unterschiedlichen Sicherheits- und Zugangsbedürfnisse der am meisten gefährdeten Personen anzuerkennen, wie Sexarbeiter*innen, die auf Online-Plattformen regelmäßig diskriminiert werden.
Ziel des DSA war es, Online-Dienste, insbesondere VLOPs, zu regulieren, um ein sicheres und vertrauenswürdiges Online-Umfeld zu schaffen, in dem “die in der Charta verankerten Grundrechte wirksam geschützt und Innovationen gefördert werden.“ Vorrangig geht es darum, die Verbreitung illegaler Inhalte von Online-Diensten zu bekämpfen. Im Zusammenhang mit der Sexarbeit führt dieser Schwerpunkt jedoch zu einer Überzensur und zum Ausschluss von Sexarbeitenden von wichtigen Diensten, da Sexarbeit und Menschenhandel weithin miteinander verwechselt werden und somit als illegal angesehen wird. Selbst in Ländern, in denen der Verkauf sexueller Dienstleistungen nicht gegen das Gesetz verstößt, werden Sexarbeiter*innen von Online-Plattformen, die nicht zwischen Sexarbeit und Menschenhandel unterscheiden, stark diskriminiert. Diese Plattformen weigern sich auch, die verschiedenen nationalen Rechtsrahmen der einzelnen Länder anzuerkennen. Stattdessen verbieten die Online-Dienste in ihren Gemeinschaftsstandards und Nutzungsbedingungen pauschal alles, was mit Sex zu tun hat, einschließlich Sexarbeit.
Der DSA hat einige Schritte unternommen, um die Nutzer*innen zu stärken, indem sie die Plattformen dazu ermutigt hat, Rechenschaftspflicht und Transparenz in den Vordergrund zu stellen. So wurden VLOPs verpflichtet, klare Mechanismen zu schaffen, über die Nutzer Rechtsmittel einlegen können, Erklärungen zu ihren Praktiken der Inhaltsmoderation zu geben und potenzielle systemische Risiken zu bewerten. Diese Bestimmungen sind jedoch für marginalisierte Gemeinschaften nach wie vor schwer zugänglich. Die Nutzer von Online-Diensten sind keine heterogene Gruppe, und das Versäumnis des DSA, einen umfassenden Ansatz zu verfolgen, ist eine verpasste Gelegenheit, auf die strukturellen Benachteiligungen und spezifischen Bedürfnisse der am meisten gefährdeten Gemeinschaften einzugehen. Dieser Mangel an Einsicht untergräbt das Potenzial des DSA, für diejenigen, die keinen Zugang zur Justiz haben und am meisten von Rechtsverletzungen bedroht sind, wirklich etwas zu bewirken. Unter diesen Umständen bleiben jegliche Rechtsschutzmechanismen für Sexarbeiterinnen unerreichbar, da ihre gesamte Existenz als illegal angesehen wird.
Was könnte eine feministische Digitalpolitk für Sexarbeitende tun?
Der DSA hat eine Gelegenheit verpasst, die Macht von den Plattformen weg zu verlagern und die Nutzer*innen zu stärken. Der aktuelle Stand des DSA berücksichtigt nicht die Bedürfnisse der am stärksten marginalisierten Personen und derjenigen, die am stärksten von Diskriminierung und anderen Menschenrechtsverletzungen bedroht sind, wie Sexarbeiter*innen. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass ein anderer Ansatz für Digitalpolitik notwendig ist. Einer, der die am stärksten marginalisierten Stimmen wirklich in den Mittelpunkt stellt - ein feministischer Ansatz.
Eine feministische Digitalpolitik hinterfragt Machtungleichgewichte kritisch und sucht nach nachhaltigen Lösungen, um die Hauptursachen dieser Probleme anzugehen. Die Folgen der Digitalisierung müssen im Kontext gesamtgesellschaftlich bestehender Ungleichheiten bewertet werden. Auf dieser Grundlage sollte die Entscheidungsträger*innen Maßnahmen priorisieren, die den am stärksten von den Auswirkungen der Digitalisierung Betroffenen zugute kommen.
Das bedeutet, dass verschiedene Nutzer*innen-Gruppen während der Ausarbeitung des DSA zielgruppengerecht einbezogen werden sollten. Das Schlüsselwort hier ist „zielgruppengerecht.“ Es unterstreicht die Wichtigkeit, Sexarbeitende als Expert*innen ihrer Berufe anzuerkennen und direkt mit ihnen zusammenzuarbeiten. Um sicherzustellen, dass die Sexarbeitende gleichberechtigt am Entscheidungsfindungsprozess beteiligt werden, ist es unerlässlich, Barrieren mit denen sie konfrontiert werden, zu beseitigen. Zu diesen Barrieren gehören Sprache, das Stigma der Sexarbeit und die Schwierigkeit, eine repräsentative Gruppe von dieser stark marginalisierten und kriminalisierten Gemeinschaft zu erreichen. Es ist wichtig, von Anfang an proaktive Lösungen umzusetzen, damit sie in diese Prozesse einbezogen werden können. Die Schaffung von Rechtsvorschriften für Online-Sexarbeit erfordert sorgfältige Überlegungen und ein gründliches Verständnis der mit dieser Praxis verbundenen Gefahren und Bedürfnisse. Ohne eine sinnvolle Konsultation von Sexarbeiter*innen birgt jede Regulierungsmaßnahme das Risiko negativer Folgen.
Nicht nur politische Entscheidungsträger*innen, sondern auch Technologieunternehmen müssen marginalisierte Stimmen in den Mittelpunkt stellen. Im Kontext des DSA würde dies bedeuten, dass VLOPs die Sichtweise von Sexarbeiter*innen berücksichtigen sollten, wenn sie ihre erforderliche Technikfolgenabschätzung durchführen. Ein erster Schritt bestünde darin, ihre Gemeinschaftsstandards und Nutzungsbedingungen genau zu prüfen, da diese direkte Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit, die Privatsphäre und die Sicherheit von marginalisierten Gemeinschaften haben. Um die Inklusion zu gewährleisten, ist es notwendig, dass die Gemeinschaftsstandards und Dienstleistungsverträge nach einer bedeutsamen Konsultation mit marginalisierten Gemeinschaften erstellt werden. Darüber hinaus sollten Möglichkeiten für ein regelmäßiges Feedback von Seiten der Nutzer*innen aktiv gefördert werden.
Die beschriebenen (unbeabsichtigten) Folgen für Sexarbeiter*innen zeigen, wie wichtig die Durchführung einer kontextbezogenen und gesellschaftlichen Technikfolgenabschätzung für alle Gesetze ist. So kann sichergestellt werden, dass die Gesetzgebung nicht bestehende Probleme verschlimmert oder neue Probleme hervorruft. Bisher haben sich die meisten Technikfolgenabschätzungen vor allem auf die rechtliche oder technische Ebene bezogen und dabei die gesellschaftliche Komponente außer Acht gelassen, die für die Gewährleistung nachhaltiger und ethisch verantwortlicher Lösungen entscheidend ist. Im Zusammenhang mit Technologieunternehmen ist es von entscheidender Bedeutung, eine sinnvolle Konsultation mit den betroffenen Gemeinschaften durchzuführen und ihre Stimmen in den Designprozess für neue Technologien einzubeziehen.
Die Art und Weise, wie sich der DSA auf das Leben von Sexarbeitenden auswirkt, zeigt einmal mehr, dass sich die politischen Entscheidungsträger*innen auf die gesellschaftlichen Gruppen konzentrieren müssen, die am stärksten von den negativen Folgen der Digitalisierung betroffen sind, um eine Politik zu machen, die das Leben aller Menschen verbessert, und um sicherzustellen, dass ihre Bedürfnisse vorrangig berücksichtigt werden.
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