Die beste Strategie gegen digitale Gewalt ist Betroffenenschutz

Warum ist ein Gesetz gegen digitale Gewalt notwendig?

von Sina Laubenstein, Corinna Vetter und Elisa Lindinger

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Vor zwei Jahren kündigte die Bundesregierung im Koalitionsvertrag ein Gesetz gegen digitale Gewalt an – und sorgte damit für einen kurzen Moment der Hoffnung bei Zivilgesellschaft und Aktivist*innen. Denn jene fordern schon lange, dass digitale Gewalt und die Bedürfnisse von Betroffenen ernst genommen werden. Nun hat das Bundesministerium der Justiz (BMJ) seine Eckpunkte für ein solches Gesetz vorgelegt. Es wird den Erwartungen damit aber leider nicht gerecht. Eine kritische Betrachtung.

Warum braucht es ein Gesetz gegen digitale Gewalt?

Es existieren bereits diverse rechtliche Regelungen im Bereich digitale Gewalt: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) beispielsweise soll die Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken verbessern. Das Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) reguliert Vermittlungsplattformen und Host-Provider auf europäischer Ebene. Außerdem diskutiert die EU aktuell eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, in deren Rahmen ebenfalls neue Straftatbestände im Bereich digitale Gewalt geschaffen werden sollen. Weshalb braucht es also noch ein Gesetz? Weil alle genannten Regelungen primär auf die Identifizierung und Verfolgung von strafbaren Inhalten und von Täter*innen ausgerichtet sind, aber wenig bis gar nicht auf Prävention sowie Betroffenenschutz. Ein Gesetz gegen digitale Gewalt sollte explizit die Bedürfnisse von Betroffenen im Blick haben und Maßnahmen auf den Weg bringen, die einen inklusiven Zugang zur Rechtsdurchsetzung sowie Strukturen zur Unterstützung schaffen und sichern.

Was ist digitale Gewalt?

Die Netzaktivistin Anne Roth definiert digitale Gewalt als alle Formen von Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel oder digitaler Medien bedienen und/oder im digitalen Raum stattfinden, also beispielsweise in Online-Portalen oder auf sozialen Plattformen.

Grob lassen sich also zwei Formen digitaler Gewalt unterscheiden: Plattformbasierte digitale Gewalt und tech-facilitated digitale Gewalt, also Gewalt, die mithilfe technischer Geräte und/oder digitaler Technologie ausgeführt wird.

Digitale Gewalt betrifft insbesondere Frauen und marginalisierte Communitys, am häufigsten mehrfach marginalisierte Menschen. Digitale Gewalt ist häufig mit analoger Gewalt verknüpft, etwa als Fortsetzung oder Ergänzung von analog bestehenden Gewaltdynamiken. Auch die Intentionen ähneln sich stark – es geht um Macht, Kontrolle, Unterdrückung, Demütigung, Verletzung und im schlimmsten Fall sogar Vernichtung.

Definitionsprobleme

Eine eklatante Leerstelle in den Eckpunkten des BMJ ist die fehlende Definition des Gegenstandes. Der Begriff der digitalen Gewalt wird auf alle Fälle von Verletzungen absoluter Rechte angewandt. So werden beispielsweise Persönlichkeitsrechte und Rechte am Gewerbebetrieb im Zusammenhang mit digitaler Gewalt gleichbehandelt. Anders und etwas polemisch formuliert: Das geplante Gesetz stellt sicher, dass auch Restaurants vor negativen Kommentaren geschützt sind und Auskunftsansprüche von Wirtschaftsinteressen motiviert sein können. Gleichzeitig beschränkt das BMJ die Anwendung des Begriffes auf Persönlichkeitsrechtsverletzungen wie Beleidigungen, Bedrohungen und Verleumdungen. Dadurch fallen Angriffe auf mehrere Personen oder (tatsächliche oder konstruierte) Gruppen, wie beispielsweise Volksverhetzung, aus dem Geltungsbereich heraus. Das lässt eine bereits bestehende rechtliche Lücke weiterhin offen und ignoriert zudem das Kommunikationsverhalten im Netz. Der Begriff der digitalen Gewalt, wie er im Eckpunktepapier angewandt wird, ist unscharf – einerseits zu breit und andererseits zu eng gefasst. Diese Nicht-Festlegung schadet letztlich den Betroffenen, weil notwendige Maßnahmen so entweder gar nicht erst zustande kommen oder die Gefahr besteht, dass sie ins Leere laufen. Darüber hinaus wird die dringend notwendige Forschung im Phänomenbereich erschwert, weil Studienergebnisse – aufgrund einer fehlenden einheitlichen Definition – wenig gemeinsame Aussagekraft erlangen können.

Auskunftsverfahren

Für Betroffene von Rechtsverletzungen soll es mit dem geplanten Gesetz einfacher werden, vor Gericht Auskunft über Verfasser*innen rechtswidriger Inhalte zu erlangen. Hier geht es um die Sicherstellung der Bestands- und Nutzungsdaten (z.B. IP-Adresse) der Verfasser*innen von mutmaßlich rechtsverletzenden Äußerungen sowie die Sicherstellung der Äußerung selbst zu Beweiszwecken bis zum Abschluss des Auskunftsverfahrens. Umfasst sind die Verletzungen absoluter Rechte (z.B. Persönlichkeitsrechte oder die Rechte an Sachen), solange dies verhältnismäßig und für die Rechtsverfolgung erforderlich ist.

Der Fokus auf die Auskunft über IP-Adressen ist im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit zwischen Nutzen und sehr starkem Eingriff in die Kommunikationsfreiheit zumindest kritisch zu hinterfragen. Menschen sind in den sozialen Medien häufig dann aktiv, wenn sie unterwegs sind. Das heißt, auch strafrechtlich relevante Inhalte werden oft mobil gepostet. Die Einwahl erfolgt dabei beispielsweise über öffentliche WLAN-Netzwerke. Auskünfte über die Bestands- und Nutzungsdaten führen also nicht zwangsläufig zu den Verfasser*innen der Inhalte. Aber auch eine korrekte IP-Adresse identifiziert keineswegs zwingend die verantwortliche Person, sondern bestenfalls den*die Anschlussinhaber*in. Zudem gibt es technische Mittel, um die IP-Adresse und andere Marker zu verschleiern. Das erfordert zwar Wissen, gegebenenfalls Geld sowie Kapazitäten – einen Aufwand, den vor allem Täter*innen aber stemmen.

Zudem ist die IP-Auskunft für viele Betroffene nicht weiter hilfreich: bei Gewalt im sozialen Nahraum, durch zum Beispiel (Ex-)Partner*innen oder Familienangehörige, sind die Täter*innen meist bekannt.

Außerdem besteht die Gefahr, dass Täter*innen selbst das Auskunftsverfahren missbrauchen. Denn Anonymität im Netz schützt in vielen Kontexten auch marginalisierte Gruppen und die Meinungsfreiheit derer, die sich in gesellschaftlich schwächeren Positionen befinden und auf diesen Schutz angewiesen sind. Das können zum Beispiel Betroffene von Stalking, Whistleblower*innen und anonyme Quellen von Journalist*innen oder antifaschistische Gruppen sein. Die Erfahrung von AfD-nahen Richter*innen, die rechtstaatliche Mittel nutzen, um rechte Gruppen zu stärken, sollte uns in dieser Hinsicht Vorsicht walten lassen.

Zu guter Letzt gilt es zu bedenken, dass sich Auskunftsverfahren – selbst im Idealverlauf – immer langwierig gestalten und Betroffenen nicht schnell helfen können. Was bedeutet, dass sie in dieser Zeit weiterhin digitaler Gewalt ausgesetzt sein können bzw. sind.

Accountsperren

Gerichtlich angeordnete Accountsperren sind eine sinnvolle Maßnahme, die plattformbasierte digitale Gewalt abmildern kann und gleichzeitig datensparsam und grundrechtssensibel agiert. Ohne Klarnamen- oder Verifizierungspflichten kann Täter*innen auf diesem Weg das (bzw. ein) Instrument, mithilfe dessen Gewalt zugefügt wird, temporär entzogen werden. Langwierige Auskunftsverfahren sind somit nicht die einzige Abhilfe für Betroffene, auch wenn sie natürlich parallel laufen können.

Die Eckpunkte aus dem BMJ sehen gerichtlich angeordnete Accountsperren grundsätzlich vor und verorten diese auch bei unabhängigen Gerichten und nicht bei staatlichen Behörden. Allerdings legt das BMJ diesem Instrument einen sehr engen Begriff von digitaler Gewalt zugrunde und scheint darin einen kaum zu rechtfertigenden Eingriff in die Kommunikationsfreiheit zu sehen: Es soll nur bei schwerwiegenden Persönlichkeitsverletzungen greifen. Das ist insofern ironisch, als dass die aus dem Auskunftsanspruch zwingend folgende Offenlegung der Identität wesentlich schwerwiegendere Folgen für die betroffene Person haben kann als das Stilllegen eines einzelnen Kommunikationskanals. Zu denken ist hier etwa an die systematische Ausforschung und Veröffentlichung privater Daten in Form von Feindeslisten, die der Gesetzeber erst kürzlich unter Strafe gestellt hat.

Digitaler Zugang zu Gerichten vs. Inklusiver Zugang zum Recht

Die Eckpunkte des BMJ sehen vor, dass bei Erörterungsterminen zum Auskunftsverfahren Videoverhandlungen möglich sind, sodass Betroffene nicht vor Gericht erscheinen müssen. Das vereinfacht den Zugang zu Gericht und trägt zur Sicherheit der Betroffenen bei. Dieser Schritt ist begrüßenswert. Gleichzeitig darf sich die Bundesregierung jedoch nicht darauf ausruhen, denn ein inklusiver Zugang zum Recht ist mehr. Zum Beispiel ist es für Betroffene digitaler Gewalt sehr schwer, gerichtsfeste Beweise via Screenshot zu sichern, da diese strengen Auflagen unterliegen, was erhebliche (technische) Anforderungen mit sich bringt.

Außerdem scheuen viele die hohen Prozesskosten und sind oft davon abhängig, dass zivilgesellschaftliche Organisationen diese übernehmen. Eine weitere Herausforderung für Betroffene ist die simple Frage: Wie und wo stelle ich eine Online-Anzeige? Wer ist zuständig? Ein bundesweites Meldeportal, wie die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina 2022 vorgeschlagen hat, könnte ein Weg zum Ziel sein – wird aber kaum diskutiert.

Problematisch ist ebenfalls die häufig nicht ausreichende Sensibilisierung und Qualifizierung von Strafverfolgungsbehörden – für digitale Gewalt, für geschlechtsspezifische Gewalt und für den Umgang mit Betroffenen. Das kann nicht „nur" retraumatisierend wirken, sondern insgesamt das Vertrauen in den Rechtsstaat senken. Zudem haben Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus grundsätzlich keinen sicheren Zugang zum Recht. Bedenkt man, dass vor allem Frauen, insbesondere Frauen aus marginalisierten Communitys, im Netz angegriffen werden, überrascht es nicht, dass die Anzeigebereitschaft sehr gering ist.

Benennung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten

Gut ist, dass das Ministerium an Zustellungsbevollmächtigten – wie bereits durch das NetzDG geregelt – festhalten und dessen*deren Zuständigkeiten sogar ausweiten will. Betroffene von digitaler Gewalt brauchen die Möglichkeit, den Plattformen Schriftstücke innerhalb Deutschlands, ohne lange Postwege und teure Übersetzungen, zuzustellen. Allerdings sollte die Regelung auch auf willkürliche Sperren durch die Plattformen ausgeweitet werden, um Nutzer*innenrechte insgesamt zu stärken.

Fazit

Das geplante Gesetz gegen digitale Gewalt wird weder dem Koalitionsvertrag noch den Forderungen von Betroffenenverbänden und Expert*innen gerecht. Es konzentriert sich, den Eckpunkten des BMJ nach zu urteilen, zu sehr auf Maßnahmen, die einerseits zu groß sind, um einzelnen Betroffenen wirklich zu helfen, und andererseits zu klein, um den dringend notwendigen systemischen Strukturwandel im Sinne der Betroffenen zu erzeugen.

In einem tatsächlichen Digitalen Gewaltschutzgesetz sollten Betroffene und deren effektive Unterstützung im Fokus stehen, sei es durch einen inklusiven Zugang zum Recht oder ein schnelles Beenden von digitaler Gewalt. Das BMJ stellt aber Auskunftsansprüche in den Vordergrund, Verfahren, die auch im Idealfall lange dauern und vor allem das Sanktionieren der Täter*innen mit Geldentschädigungen zum Ziel haben.

Dazu kommt, dass das Problem digitale Gewalt – wie im Koalitionsvertrag anerkannt – nicht nur mit juristischen Mitteln angegangen werden kann. Es braucht eine ressortübergreifende Strategie, die maßgeblich mit dem Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes abgestimmt werden muss. So könnte gemeinsam an vielen kleinen und größeren Stellschrauben im Sinne der Betroffenen gedreht werden. Zu diesen Stellschrauben gehört unter anderem:

  • Beratungsstrukturen für Betroffene von digitaler Gewalt auf- und ausbauen – vor Ort und im digitalen Raum.

  • Finanzierung konkreter Unterstützungsangebote für Betroffene sicherstellen – zum Beispiel Frauenhäuser und Anlaufstellen für juristischen und/oder technischen Support.

  • Bildungsangebote zum Thema Digitales sowie Gleichstellung und (digitale) Gewalt schaffen und erweitern.

  • Sensibilisierung und Qualifizierung von Polizei und Gerichten zum Thema digitale Gewalt stärken.

  • Ressourcen für diesen Themenbereich bei Gerichten erhöhen.

  • Impressumspflicht so aktualisieren, dass keine Privatadressen von Einzelpersonen verwendet werden müssen, denn das setzt Aktivist*innen, Journalist*innen und Blogger*innen unnötigen Risiken aus.

  • Zugang zu Melderegistersperren vereinfachen.

Noch hat das BMJ die Chance, Betroffene von digitaler Gewalt und deren Interessen tatsächlich in den Mittelpunkt zu rücken, dafür muss es aber nachliefern.

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